2018-11-01
Matthias Koch vom RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat in den Ruhr Nachrichten vom heutigen Tage (Ausgabe ‘RN DN-Dorsten’, 01.11.2018, Seite 2) über die Arbeitslosenzahlen der Bundesrepublik Deutschland philosophiert: »Nicht nur Laien, sogar Fachleute wundern sich.«
Auch ich wunderte mich und schrieb ihm eine Email. Hier der Wortlaut:
»Als Angela Merkel ihr Amt antrat, im Jahr 2005, gab es knapp fünf Millionen Arbeitslose. Zwölf Jahre später, 2017, waren es noch 2,5 Millionen. Doch auch nach der Halbierung der Zahl geht jetzt, das ist das Verblüffende, der Rückgang weiter. Neuer Stand: 2,2 Millionen.«
»Die erfolgsverwöhnten Deutschen haben sich angewöhnt, die Arbeitslosenquoten zu ignorieren, aus verschiedenen Gründen. Da gibt es jene, die meinen, dies alles habe doch eigentlich Gerhard Schröder bewirkt mit seinen Arbeitsmarktreformen. In Wahrheit aber war nicht allein deren Verkündung im Jahr 2003 wichtig. Wichtig war auch, dass die Politik an ihnen festhielt, gegen alle Versuche, zentrale Dinge wieder zurückzudrehen. Merkel hat diese sture Linie durchgesetzt, 13 Jahre lang, in wechselnden Koalitionen.«
»Im Bereich Forschung und Entwicklung gibt es heute in Deutschland knapp 200.000 Vollzeitbeschäftigte mehr als im Jahr 2005. Dies sind die Jobs, die zu neuen Jobs in der Zukunft beitragen. Und sie sind einer der Faktoren, die dazu führen, dass das Weltwirtschaftsforum in einer neuen Studie Deutschland als das innovationsfähigste Land auf dem Globus bezeichnete.«
Hallo Matthias Koch,
alles richtig, was Sie schreiben, doch Sie präsentieren das als einen undifferenzierten Kalauer, den auch Angela Merkel gerne bemüht. Sie könnten ihr Redenschreiber sein.
Ihre fulminante Merkel-Laudatio verweigert die differenzierte Betrachtungsweise:
Von 1991 bis 2010 z. B. wurde lt. Böckler Impuls, Ausgabe 03/2012, die Anzahl der Beschäftigen in Öffentlichen Dienst um 1,6 Millionen gesenkt; das sind über 30 Prozent.
Das Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland sinkt in seiner Tendenz seit 1960. Lediglich in den Phasen der Hochkonjunktur stieg es jeweils vorübergehend an. Das Arbeitsvolumen sinkt, wenn die gesamte Wirtschaftsleistung eines Landes (BIP) langsamer wächst als die Arbeitsproduktivität (AP = Wirtschaftsleistung der Beschäftigten pro Stunde). Dies war in Deutschland langfristig seit 1960 immer der Fall, d. h. die Arbeitsproduktivität ist im Dekadenvergleich immer schneller gewachsen als das BIP.
Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass das Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland 1960 und 2008 fast identisch blieb (bei ca. 57 Mrd. Stunden), obwohl das Erwerbspersonenpotential seit 1960 von rund 26 Mio. auf 44,5 Mio. Personen stieg. Im Gegenzug sank die Wochenarbeitszeit.
Seitdem ist das Arbeitsvolumen leicht angestiegen. 2013 lag es bei 58,072 Milliarden Stunden, dem Höchststand seit 1994, verteilt auf ca. 44,5 Millionen Schultern.
Die Zahl der Überstunden in Deutschland betrug 2016 rund 829 Millionen Stunden und damit 132 Millionen Stunden weniger als noch 2012. Das geht aus der Antwort (19/289) der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (19/70) der Fraktion DIE LINKE hervor.
Und nun erklären Sie mir bitte mal, was das für neue Arbeitsstellen sind, die zu Hauff eingerichtet wurden? Kann es sein, dass immer mehr reguläre, also Vollzeitstellen, in prekäre umgewandelt wurden und werden?
Was also in Deutschland ganz substanziell passiert ist, ist die Spreizung des Arbeitsvolumens (von ca. 57 Mrd. Stunden bis 58,072 Milliarden Stunden) auf mehr Schultern. – Und das hat zur Freude der Unternehmen bekanntlich dazu geführt, dass sich Deutschland politisch gewollt zum europäischen Niedriglohnland Nr. 1 entwickelte. Der Niedriglohnsektor boomt in kaum einem europäischen Land so wie in Deutschland.
Die von Ihnen mit der Beschäftigtenlage in Verbindung gebrachten Steuerzuwächse – wie können die denn zusammenkommen, wenn insgesamt nicht mehr Arbeitseinkommen versteuert wird, weil eben nicht mehr Arbeit verrichtet wird. Viele Jobs reichen nicht mal für das Salz in der Suppe, geschweige denn für den Aufbau einer ausreichenden Alterssicherung.
Kann es sein, dass die sakrosankte „schwarze Null“ des Herrn Schäuble von den niedrigen Zinsen auf Kredite, die für die Bankenrettung aufgenommen wurden, ganz erheblich profitiert? Deutschland ist z. B. großer Profiteur der Milliardenbeträge zur „Rettung Griechenlands“ [in Wahrheit (auch deutschen) Banken] und hat seit dem Jahr 2010 insgesamt rund 2,9 Milliarden Euro an Zinsgewinnen verdient.
Von Herrn Steinbrück wissen wir jedenfalls seit gestern: Die deutschen Steuerzahler verloren bei der Bankenrettung 60 Milliarden Euro.
…
»Die erfolgsverwöhnten Deutschen«, wie sie die Deutschen Michel in Anlehnung an Joachim Gauck (glücksüchtige Gesellschaft) geringschätzig bezeichnen, sind durch die »sture Linie« Angela Merkels »in wechselnden Koalitionen« systematisch prekarisiert worden: Die Masseneinkommen der deutschen Bevölkerung wurden massiv reduziert, das Geld den monetären Machthabern zur Verfügung gestellt.
Die Löhne der Beschäftigten entwickeln sich durch Leiharbeit und Werkverträge immer mieser, während die Bezüge der Vorstandsebene explodieren. Viele Arbeitsplätze wurden ausgesourced, um sie dem Tarifrecht zu entziehen und die Stelleninhaber schlechter zu bezahlen. Verschärfte Ausbeutung durch einen wachsenden Niedriglohnsektor, Sozial- und Bildungsabbau (u. a. Lehrermangel), Aneignung gesellschaftlichen Eigentums durch Privatisierung sind Alltag. – Das sind die Kennzeichen dieser »sturen Linie« Angela Merkels.
Durch die Regierung mitsamt ihrem politischen Personal (auch dem der Angela Merkel) im Deutschen Bundestag wurde 2001 ein schleichender Verlust unserer Renten von 20 Prozent bis zum Jahr 2030 bewusst gesetzlich festgeschrieben. Immerhin betrifft das ca. 22 Millionen bundesrepublikanische Rentner.
In der Zwischenzeit ist das Thema Altersarmut durch unzulängliche Renten Dauerthema. Und auch Ihre Agentur agitiert für dieses Thema im Sinne der Firma BlackRock mit dem demographischen Faktor (Rasmus Buchsteiner) gegen die Interessen der Bundesbürgerinnen und -Bürger für private Versicherungslösungen: Als müsse man auskömmliche Renteneinkommen ausschließlich über den Faktor Arbeit organisieren. Warum nicht über die Gesamt-Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik, die ja schließlich eine Gemeinschaftsleistung darstellt.
Auf Sparkonten erhalten die Bürgerinnen und Bürger keine Erträge mehr, weil die EZB die Finanzmärkte mit Billionenbeträgen päppelt.
Politisch gewollte, einseitige Steuergeschenke für Arbeitgeber, Industrie und Finanzwirtschaft durch Steuergesetzesänderungen für die Zeit zwischen 1998 und 2013 in Höhe von ca. 490 Milliarden Euro mussten kompensiert werden.
Das Ergebnis: die öffentliche Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland vergammelt. Städte und Gemeinden sind notorisch unterfinanziert.
Im Februar 2018 meldete die KfW, dass sich der Investitionsstau bei den Schulen bundesweit um weitere 15 Milliarden Euro auf nunmehr 47,7 Milliarden Euro erhöht habe und der Investitionsstau bei den Kitas sich auf 7,6 Milliarden Euro fast verdoppelt habe. Der Deutsche Lehrerverband addiert zu diesen Zahlen, die ja nur die Gebäudeinfrastruktur beinhalten, noch die nötigen Investitionen in die digitale Infrastruktur und Personal und kommt dabei auf einen Fehlbetrag von 118 Milliarden Euro.
Auch die Verkehrsinfrastruktur liegt brach und dies betrifft nicht nur den Straßenbau, sondern auch und vor allem den öffentlichen Nahverkehr – insbesondere das Schienennetz.
Hunderte Brücken von Autobahnen und Landstraßen in Nordrhein-Westfalen müssen in den kommenden Jahren neu gebaut werden. Laut Berechnungen des Landesbetriebes Straßen.NRW müssen etwa zwei Drittel von bislang rund 550 statisch überprüften Brücken mittel- oder kurzfristig durch einen Neubau ersetzt werden.
Alles Ergebnisse der »sturen Linie« Angela Merkels »in wechselnden Koalitionen«, sie hat die Beutezüge des Finanzmarktes mitorganisiert. – Und das Entstehen einer politischen Gesinnung, die die AfD einen Triumph nach dem anderen feiern lässt.
Es gibt eine wachsende soziale Spaltung. Das belegen die Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. 40 Prozent der Bevölkerung haben am Wachstum keinerlei Anteil, ja sie haben weniger Einkommen als vor 20 Jahren. Das sind dramatische Entwicklungen, die keine Demokratie auf Dauer aushalten kann.
Und Sie und Ihre Agentur schwätzen über »die erfolgsverwöhnten Deutschen«, als sei die Opferrolle ihr selbstverständliches Schicksal.
Das, was Sie und Frau Merkel bezüglich der Vollbeschäftigung verbreiten, ist oberflächliche Ruhigstellung des Wahlvolkes und hat mit seriöser Berichterstattung bzw. Information nichts zu tun.
Übrigens: Die Handelskette Real z. B., so hat das Unternehmen vor einiger Zeit verlauten lassen, will auf Dauer überhaupt kein eigenes Personal mehr beschäftigen und ausschließlich auf prekär Beschäftigte zurückgreifen.
Wie sagte doch ein CDU-Generalsekretär Peter Tauber im Juni 2017 in einem Tweet: „Wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, dann brauchen Sie keine drei Minijobs.“ Die Empörung über seine Bemerkung war enorm, viele „erfolgsverwöhnte Deutsche“ antworteten ihm bei Twitter wütend.
Wie, wenn es aber nur noch Minijobs gibt und man nicht gerade CDU-Generalsekretär oder Kommentator für die Ruhr Nachrichten ist?
Mit (nicht wirklich) freundlichen Grüßen
Jürgen Beineke
P.S.: Ich erlaube mir, meine Post an exponierte Personen der Öffentlichkeit in öffentlichen Politikforen und auf meiner persönlichen Homepage zu verwenden. Hierfür habe ich extra eine eigene Seite eingerichtet.
Admin - 15:47:38 @