2019-09-01

»Populisten wie Johnson hebeln das Parlament aus und berufen sich auf den Volkswillen.«

Mit‭ ‬Antwort von Dr.‭ ‬Stefan Ulrich vom‭ ‬5.‭ ‬September‭ ‬2019

Der‭ “‬Schachzug‭” ‬der‭ ‬Prorogation des britischen Premiers Boris Johnson,‭ ‬das Parlament zu beurlauben,‭ ‬ist ein politisches Mittel im Rahmen des britischen Parlamentarismus.‭ ‬– Eine Missachtung des Parlaments‭?

Die Alternative wäre eine‭ (‬weitere‭) ‬Missachtung des plebiszitär bekundeten Bürgerwillens‭ ‬– so wie üblich in der EU.‭ – ‬Hier handelt es sich offensichtlich um die Form der Verschleppung.‭ ‬Gexit-Vereitelung mittels Verrates,‭ ‬Brexit-Vereitelung mittels Verschleppung.

[Bei diesem Beitrag handelt es sich um mein Blog aus der Freitag-Community]

»‬Eine bizarre Erscheinung dieser Jahre ist es,‭ ‬dass die Nationen ihre wichtigsten politischen Werke selbst demolieren.‭ ‬Die USA zerstören unter Donald Trump die amerikanische Weltordnung.‭ ‬Viele Europäer verfallen dem Nationalismus und gefährden die EU.‭ ‬Und Großbritannien ist dabei,‭ ‬seinen vielleicht wertvollsten Beitrag zur Weltgeschichte zu demontieren:‭ ‬die,‭ ‬trotz Monarchie,‭ ‬parlamentarisch geprägte Demokratie.‭«

»Die Wirren in Großbritannien sind das Symptom einer Krankheit,‭ ‬die derzeit viele Demokratien befällt.‭ ‬Populisten versuchen,‭ ‬die Parlamente zu schwächen,‭ ‬zugunsten starker Männer,‭ ‬die sich direkt auf den Volkswillen berufen.‭ ‬Wenn der Anführer‭ ‬-‭ ‬ob er nun Trump,‭ ‬Johnson oder Matteo Salvini heißt‭ ‬-‭ ‬das Volk verkörpert und dessen Willen vollstreckt,‭ ‬warum sollte er dann von einem Parlament kontrolliert werden,‭ ‬das diesen Willen in Fraktionen bricht und damit schwächt,‭ ‬ja verfälscht‭?«

Das ist der Verriss des Donald Trump,‭ ‬des Boris Johnson und Matteo Salvini durch‭ ‬Dr.‭ ‬Stefan Ulrich in seinem Kommentar auf SZ.de vom‭ ‬31.‭ ‬August‭ ‬2019‭; ‬ Parlamentarismus:‭ ‬Die gefährliche Formel der starken Männer.

Stefan Ulrich präsentiert uns eine pathologisch/amnestische Version,‭ ‬da er den systemischen Hintergrund des Geschehens ganz sicher bewusst auslässt‭ (‬er ist nicht dumm genug,‭ ‬um den nicht zu kennen‭) ‬und populistisch argumentiert:‭ ‬Lapidare Bemerkungen statt Hinweise auf das ursächliche Versagen der gängigen politischen Parteien des Status quo,‭ ‬die eine signifikante Mitschuld für die desolate Situation‭ (‬nicht nur in Großbritannien‭) ‬tragen.‭ ‬Gehört er nicht selbst jener medialen Spezies an,‭ ‬die die Politik der gängigen politischen Parteien des Status quo bis zum Geht-nicht-mehr promotet hat und die sakrosankte Zauberformel‭ „‬Globalisierung‭“ ‬wie elektrisiert in alle Wohnzimmer trug‭?

Mediale und politische Schreihälse führen sich auf,‭ ‬als hätte das alles nichts mit ihnen selbst zu tun.‭ ‬Dabei sind sie signifikante Mit-Verursacher dieses Durcheinanders,‭ ‬das u.‭ ‬a.‭ ‬auch in Deutschland jene Gesinnung ausbrütete,‭ ‬die sich die AFD zunutze macht.‭ ‬Ihre Politik ist der Misthaufen mit bestem Nährstoff für diese Gesinnung.

Die großen Schreihälse,‭ ‬die sich jetzt gegen Boris Johnson wettern,‭ ‬hatten drei Jahre lang Zeit,‭ ‬den Brexit nach ihrem Geschmack durchzuführen und haben es nicht hingekriegt.‭ ‬Und ich sage auch,‭ ‬warum nicht:‭ ‬Sie wollten und wollen den Brexit nicht.‭ – ‬Der Rest ist Märchenstunde‭!

Regelrecht wohltuend demgegenüber‭ ‬Thomas Fricke.‭ ‬Er lässt uns wissen:»‬Nach gängigen Studien haben in den USA gerade dort die Leute Trump gewählt,‭ ‬wo sie mit wirtschaftlichen Umbrüchen allein gelassen wurden‭ – ‬und wo der naiv wirtschaftsliberale Ruf nach Eigenverantwortung zunehmend grotesk klang.‭ ‬Die Briten haben vor allem in Regionen für den Brexit gestimmt,‭ ‬wo die Leute unter der Austerität nach‭ ‬2010‭ ‬am meisten verzichten mussten.‭ ‬In Deutschland schnitt die AfD bei den Europawahlen im Mai gerade in solchen strukturell anfälligen Regionen überdurchschnittlich gut ab,‭ ‬in denen die wirtschaftlichen Aussichten eher schlecht und bereits eine Menge Leute abgewandert sind.‭ ‬Das ergab eine gerade veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung‭ (‬DIW‭) ‬Berlin.
Ganz offenbar gibt es eine tiefe Sehnsucht danach,‭ ‬wieder mehr Kontrolle über das eigene Schicksal zu gewinnen‭ – ‬und wieder mehr Kontrolle der gewählten Politiker über das Schicksal des Landes.‭«

 
An Boris Johnson gefällt mir,‭ ‬dass er anscheinend gegen alle Widerstände bereit ist,‭ ‬das drei Jahre alte Brexit-Votum zu exekutieren.‭ – ‬Ganz anders als der saubere Alexis Tsipras in Griechenland‭ ‬2015,‭ ‬der mit einem überzeugenden Mandat versehen war,‭ ‬es aber schließlich gegen die eigene Bevölkerung richtete.
‭…

Jetzt,‭ ‬vor den Landtagswahlen,‭ ‬wieder dasselbe Ritual:‭ ‬Medial wird zur‭ „‬Rettung der Volksparteien‭“ ‬geblasen.‭ ‬Die reale rechte Gefahr wird aktuell vor allem dafür genutzt,‭ ‬die Verantwortung etablierter Redakteure,‭ ‬Lobbyisten und Politiker für die aktuellen gesellschaftlichen Gräben zu kaschieren.
‭…

Nachfolgend meine Email vom heutigen Tage an Dr.‭ ‬Stefan Ulrich:

From:‭ ‬j.beineke@t-online.de‭
Sent:‭ ‬Saturday,‭ ‬August‭ ‬31,‭ ‬2019‭ ‬10:20‭ ‬AM
To:‭ ‬stefan.ulrich@sueddeutsche.de‭
Subject:‭ ‬31.‭ ‬August‭ ‬2019,‭ ‬9:37‭ ‬Uhr:‭ ‬Parlamentarismus:‭ ‬Die gefährliche Formel der starken Männer
 
31.‭ ‬August‭ ‬2019,‭ ‬9:37‭ ‬Uhr
Parlamentarismus:
Die gefährliche Formel der starken Männer
 

 
Sehr geehrter Dr.‭ ‬Stefan Ulrich,
 
was auch dieser Beitrag wieder konsequent auslässt,‭ ‬ist der Hinweis auf das Versagen der gängigen politischen Parteien des Status quo,‭ ‬die eine signifikante Mitschuld für die desolate Situation‭ (‬nicht nur in Großbritannien‭) ‬tragen.
 
Mediale und politische Schreihälse führen sich auf,‭ ‬als hätte das alles nichts mit ihnen selbst zu tun.‭ ‬Dabei sind sie signifikante Mit-Verursacher dieses Durcheinanders,‭ ‬das u.‭ ‬a.‭ ‬auch in Deutschland jene Gesinnung ausbrütete,‭ ‬die sich die AFD zunutze macht.
 
Thomas Fricke lässt uns wissen:»‬Nach gängigen Studien haben in den USA gerade dort die Leute Trump gewählt,‭ ‬wo sie mit wirtschaftlichen Umbrüchen allein gelassen wurden‭ – ‬und wo der naiv wirtschaftsliberale Ruf nach Eigenverantwortung zunehmend grotesk klang.‭ ‬Die Briten haben vor allem in Regionen für den Brexit gestimmt,‭ ‬wo die Leute unter der Austerität nach‭ ‬2010‭ ‬am meisten verzichten mussten.‭ ‬In Deutschland schnitt die AfD bei den Europawahlen im Mai gerade in solchen strukturell anfälligen Regionen überdurchschnittlich gut ab,‭ ‬in denen die wirtschaftlichen Aussichten eher schlecht und bereits eine Menge Leute abgewandert sind.‭ ‬Das ergab eine gerade veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung‭ (‬DIW‭) ‬Berlin.
Ganz offenbar gibt es eine tiefe Sehnsucht danach,‭ ‬wieder mehr Kontrolle über das eigene Schicksal zu gewinnen‭ – ‬und wieder mehr Kontrolle der gewählten Politiker über das Schicksal des Landes.‭«

 
An Boris Johnson gefällt mir,‭ ‬dass er anscheinend gegen alle Widerstände bereit ist,‭ ‬das drei Jahre alte Brexit-Votum zu exekutieren.‭ – ‬Ganz anders als der saubere Alexis Tsipras in Griechenland‭ ‬2015,‭ ‬der mit einem überzeugenden Mandat versehen war,‭ ‬es aber schließlich gegen die eigene Bevölkerung richtete.
 
Die großen Schreihälse,‭ ‬die sich jetzt gegen Boris Johnson wettern,‭ ‬hatten drei Jahre lang Zeit,‭ ‬den Brexit nach ihrem Geschmack durchzuführen und haben es nicht hingekriegt.‭ ‬Und ich sage auch,‭ ‬warum nicht:‭ ‬Sie wollten und wollen den Brexit nicht.‭ – ‬Der Rest ist Märchenstunde‭!
 
Sie wiederholen bekannte Positionen und stärken damit die Tradition der EU-Mitglieder,‭ ‬Bürgerbegehren und selbst noch eine Legitimation der EU durch die EU-Bürgerinnen und‭ ‬-bürger geflissentlich zu unterlaufen.
 
2005:‭ ‬Als die europäischen Einwohner Mitte‭ ‬2005‭ ‬über die EU-Verfassung abstimmen sollten,‭ ‬lehnten die Bürgerinnen und Bürger von Frankreich und den Niederlanden sie im Rahmen eines Referendums ab,‭ ‬was die anderen beteiligten Staaten veranlasste,‭ ‬ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger gar nicht erst zu befragen‭ ‬-‭ ‬so auch die Bundesrepublik Deutschland.‭ ‬Der EU-Verfassungsvertrag sollte ursprünglich am‭ ‬1.‭ ‬November‭ ‬2006‭ ‬in Kraft treten.‭ ‬Doch nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden ratifizierte eine Reihe von Mitgliedstaaten den Vertrag lieber nicht,‭ ‬verzichtete gar auf Abstimmungen hierüber im eigenen Land,‭ ‬wodurch der EU-Verfassungsvertrag keine Rechtskraft erlangte.‭ ‬Stattdessen schlossen die europäischen Staats-‭ ‬und Regierungschefs im Dezember‭ ‬2007‭ ‬ersetzend den Vertrag von Lissabon ab,‭ ‬der am‭ ‬1.‭ ‬Dezember‭ ‬2009‭ ‬in Kraft trat.
 
Eine EU-Bürgerabstimmung über einen EU-Verfassungsvertrag ist also nie erfolgt.‭ ‬Man brauchte die‭ „‬unmündigen Bürgerinnen und Bürger‭“ ‬dafür nicht,‭ ‬man schloss sie aus.
 
Die EU ist nichts anderes,‭ ‬als ein Kartell der beteiligten europäischen Regierungen,‭ ‬das ihren Bevölkerungen seinen Willen aufzwingt.‭ ‬Die Ergebnisse von Bürgerbefragungen wurden jedes Mal von den jeweiligen Regierungen in die Tonne gekloppt.
Ihre Argumentation bedient genau diese Obrigkeitsdenke der Status quo-Politiker,‭ ‬die nichts anderes wollen,‭ ‬als die Bevölkerungen im Sinne der monetären Machthaber zu domestizieren.‭ ‬Und von denen ganz viele Bürgerinnen und Bürger offensichtlich die Schnauze voll haben.
 
Jetzt,‭ ‬vor den Landtagswahlen,‭ ‬wieder dasselbe Ritual:‭ ‬Medial wird zur‭ „‬Rettung der Volksparteien‭“ ‬geblasen.‭ ‬Die reale rechte Gefahr wird aktuell vor allem dafür genutzt,‭ ‬um die Verantwortung etablierter Redakteure,‭ ‬Lobbyisten und Politiker für die aktuellen gesellschaftlichen Gräben zu kaschieren.
 
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Beineke

Update per‭ ‬5.‭ ‬September‭ ‬2019‭ | ‬Antwort von Dr.‭ ‬Stefan Ulrich

From:‭ ‬Ulrich,‭ ‬Stefan‭
Sent:‭ ‬Thursday,‭ ‬September‭ ‬5,‭ ‬2019‭ ‬11:19‭ ‬AM
To:‭ ‘‬j.beineke@t-online.de‭’
Subject:‭ ‬AW:‭ ‬31.‭ ‬August‭ ‬2019,‭ ‬9:37‭ ‬Uhr:‭ ‬Parlamentarismus:‭ ‬Die gefährliche Formel der starken Männer

Sehr geehrter Herr Beineke,

besten Dank für Ihre e-mail.‭ ‬Erlauben Sie mir,‭ ‬dass ich Ihnen zeitbedingt nur kurz antworte:

Ich muss mich in einem Artikel von‭ ‬120‭ ‬Zeitungszeilen Länge zwangsläufig auf einen oder einige wenige Aspekte konzentrieren.‭ ‬Dabei habe ich den Schwerpunkt auf die Gefährdung der parlamentarischen Demokratie durch Strategie,‭ ‬Taktik und Agieren des Rechtspopulismus gelegt.‭ ‬Dennoch habe ich auch die Fragen der Korruption und des Lobbyismus und die Anfälligkeit von Parlament dafür angesprochen.‭ ‬Das Versagen der traditionellen politischen Parteien in etlichen Bereichen‭ (‬Umweltschutz,‭ ‬abgehängte Regionen‭ …) ‬wird in der SZ in zahlreichen Artikeln nahezu täglich thematisiert.

Wirtschaftliche Vernachlässigung ist ein Grund dafür,‭ ‬dass Menschen extrem rechts wählen.‭ ‬Aber keineswegs der einzige.‭ ‬Beispiel:‭ ‬Im reichen Norditalien wählen sehr viele Unternehmer,‭ ‬Freiberufler,‭ ‬Begüterte,‭ ‬wohlhabende Bürger die Lega.

Dass viele britische den Brexit nicht wollen,‭ ‬finde ich verständlich und richtig.‭ ‬Das Brexit Votum wurde durch Lug und Trug durch Leute wie Johnson herbeigeführt,‭ ‬die Bevölkerung davor über Jahrzehnte durch die Murdoch-Presse und andere gegen die EU regelrecht aufgehetzt.‭ ‬Und was nach dem Brexit kommen soll,‭ ‬darüber sagt das Referendum überhaupt nichts aus.

Die EU ein Kartell der beteiligten Regierungen,‭ ‬die den Bevölkerungen ihren Willen aufzwingt‭? ‬Da frage ich Sie,‭ ‬wer denn diese Regierungen gewählt hat‭? ‬Die Antwort:‭ ‬Die Bevölkerungen.‭ ‬Unabhängig davon bin ich sehr dafür die EU in einen europäischen Bundesstaat umzuwandeln,‭ ‬das Europaparlament zu einem vollwertigen Parlament zu machen und ihm die zentrale Stellung in diesem Bundesstaat zu geben.‭

Mit freundlichen Grüßen
Stefan Ulrich

[Bei diesem Beitrag handelt es sich um mein Blog aus der Freitag-Community]

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