2019-02-04
Professor Henrik Müller beklagt in seiner Kolumne auf SPIEGEL ONLINE über »Deutschland im [wirtschaftlichen] Abschwung« Deutschlands mangelnde Bereitschaft zu notwendigen Reformen. Da stellt sich doch die Frage, ob er die Reformen mit dem Namen AGENDA 2010, die Deutschland zu Exportweltmeistern werden ließ, vergessen hat.
Erkauft wurde das nämlich durch eine gigantische Arbeitsmarkt-Umorganisation, für die das „Parteienkartell aus CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNE“ gezielt Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und damit auch der Einkommensverhältnisse bis hin zu den Renteneinkommen betrieb.
Es handelte sich hierbei um einen gigantischen Besitzstandsklau, der an der Bevölkerung vorgenommen wurde.
Und wenn ein Professor, wie Dr. Henrik Müller, öffentlich nach Reformen ruft, muss man vorsichtig sein, zumal, wenn sie noch nicht emeritiert sind. So lange verkünden sie auch gerne die „offizielle Lehre“.
Ich habe mir erlaubt, Herrn Müller eine entsprechende Protest-Email zuzusenden:
From: j.beineke@t-online.de
Sent: Sunday, February 3, 2019 7:14 PM
To: Müller Henrik Prof.
Subject: Ihre Kolumne auf SPIEGEL ONLINE von Sonntag, 03.02.2019 - Deutschland im Abschwung_ Gefährliches Nichtstun
Sonntag, 03.02.2019 11:43 Uhr
Deutschland im Abschwung
Gefährliches Nichtstun
»Deutsche waren in den vergangenen Jahren groß darin, andere Länder zu Reformen zu drängen. Nur unsere eigene Wirtschaftspolitik sollte bitte bloß nicht verändert werden. Das könnte sich jetzt rächen.«
Sehr geehrter Professor Henrik Müller,
bezüglich des zweiten Satzes bin ich völlig anderer Meinung, und ich will Ihnen die auch entgegenhalten.
»Solange die Wirtschaft läuft, machen Gesellschaften um schmerzhafte Reformen einen großen Bogen. Erst wenn sich ein Abschwung verfestigt und Probleme unübersehbar zutage treten, wagt sich die Politik an Kursänderungen.
So ist es auch diesmal. Die Konjunktur lahmt (Donnerstag gibt’s neue Daten zur deutschen Industrieproduktion), da beginnt allmählich eine Debatte über tiefer greifende Veränderungen in der Wirtschaftspolitik.«
Dem muss entgegengehalten werden, dass die Wirtschaft erst seit kurzem lahmt. Und dass sie davor nicht lahmte, es Deutschland sogar gut geht, wie Politik und Medien unisono narrativ behaupten, hat den Grund, dass dem massivste Reformen, wie z. B. die Veränderung des Arbeitsmarktes und der Einkommensverhältnisse vorausgegangen war. Politik mit Unterstützung auch von devoten Professoren und Medien haben die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und damit auch der Einkommensverhältnisse bis hin zu den Renteneinkommen organisiert.
Zwar kommen Sie oberflächlich in Ihrem Text ebenfalls darauf zu sprechen. Dass die Bevölkerung jedoch massivst bestohlen und das Geld für die Alimentierung der Kapitalwirtschaft verwendet wurde – kein Wort dazu von Ihnen. Dass es Deutschland heute gut geht, hat nur damit etwas zu tun und damit, dass sich Deutschland des größten Niedriglohnsektor Europas rühmen kann.
Ihr Kollegen Bontrup warnte 2010 bereits: “Durch Umverteilung von unten nach oben in die Krise”:
»2009 lag der Anteil der Massensteuern bei knapp 73 Prozent. Auch bei den Sozialabgaben stand eine Politik der Lohnnebenkostensenkung, eine Umverteilung zu Gunsten der Unternehmerprofite, im Fokus. So sank im Ergebnis die Nettolohnquote von 43,8 Prozent in 1980 auf 33,9 Prozent in 2007. Also in Summe um 9,9 Prozentpunkte.
Beide Umverteilungseffekte zu den Kapitaleinkünften haben aber nicht – wie immer wieder von Neoliberalen behauptet wird – zu einem Anstieg der Investitionen und zu mehr Beschäftigung geführt. Im Gegenteil, sowohl die private als auch die staatliche Investitionsquote (Bruttoanlageinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt) gingen zurück. Diese unheilvolle Entwicklung lässt sich leicht erklären. Warum sollen profitgetriebene private Unternehmen in reale Werte, also Maschinen und Gebäude zur Kapazitätserweiterung investieren, wenn dafür keine hinreichende Nachfrage gegeben ist, weil schlicht und ergreifend Massenkaufkraft durch die beschriebene doppelte Umverteilung von unten nach oben fehlt? Und der Staat konnte nicht hinreichend investieren, weil er einerseits auf Grund des nur geringen Wirtschaftswachstums zu wenige Einnahmen hatte, die er zusätzlich noch durch Steuersenkungsmaßnahmen (hauptsächlich zu Gunsten des Kapitals) weiter absenkte.
Addiert man allein den gesamten Steuerausfall auf Grund von Steuergesetzesänderungen seit 1998 (ohne Konjunktureffekte) von 2000 bis 2013, so ergibt sich ein Wert von 490,35 Milliarden Euro. Davon entfallen auf den Bund 197,67 Milliarden Euro, auf die Länder 236,68 Milliarden Euro und auf die Gemeinden 56,00 Milliarden Euro. Fragt man nach der politischen Verantwortung, so haben im Zeitraum von 2000 bis 2013 von den 490,35 Milliarden Euro Steuersenkungen rot-grün (von 1998 bis 2005) insgesamt – 530,53 Milliarden Euro, schwarz-rot (große Koalition von 2005 bis 2009) + 71,8 Milliarden Euro und schwarz-gelb (2009 bis 2013) – 31,62 Milliarden Euro zu verantworten. Dabei gehen die Steuermehreinnahmen während der großen Koalition auf die Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 Prozent und auf den konjunkturellen Aufschwung von 2006 bis 2008 zurück.«
Ein Steuerausfall von 490,35 Milliarden Euro musste kompensiert werden.
Hierfür wurde die schrödersche AGENDA 2010 erfunden, die Bedienungsanleitung für den Besitzstandsklau, der richtungsweisend werden sollte für all jene Politiker des „Parteienkartells aus CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNE“, die sich seit 1998 angewöhnt haben, systematisch auf die Besitzstände der Bürgerinnen und Bürger zuzugreifen. Sie sind hierfür nicht einmal davor zurückgeschreckt, vielerorts prekäre Einkommens- und Lebensverhältnisse zu schaffen.
Im Rahmen der schröderschen AGENDA 2010 musste das bewährte, umlagefinanzierte soziale Sicherungssystem der BRD zerschlagen und in Teilen durch fragwürdige kapitalgedeckte Versicherungsformen einseitig zulasten der Bürger ersetzt werden.
Die Rentenreform 2001 ist unter massiver Einflussnahme der Lobbyisten der Finanzmärkte zustande gekommen. Damals standen einige Lebensversicherer am Rande des Abgrunds, und die Mannheimer Versicherung war ja bereits illiquide. Das heißt, man hat dringend nach einer Möglichkeit gesucht, der Versicherungswirtschaft unter die Arme zu greifen. Das ist die eigentliche Motivation!
Dafür wurde vom Deutschen Bundestag 2001 ein schleichender Verlust unserer Renten von 20 Prozent bis zum Jahr 2030 bewusst gesetzlich festgeschrieben. Ein frecher, skrupelloser Akt, Arbeitnehmer bzw. potenzielle Rentner für die Rendite privater Unternehmen – Hasardeure, wie wir seit der Lehman-Pleite wissen – in die Pflicht zu nehmen.
Der ewigen Rentenlüge habe ich auf meiner persönlichen Homepage ein eigenes Blog gewidmet.
https://www.jürgenbeineke.de/Themen/Thema-2/Die-ewige-Rentenluege
Rund 33 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, davon 26 Millionen Erwachsene, verfügen seit Jahrzehnten über keinen Einkommenszuwachs, über keine nennenswerte Verbesserung ihrer sozialen Lebenssituation. Dazu gehören auch 3 Millionen Kinder und Jugendliche in sozialer Armut, ebenso mehr als 1 Million Alleinerziehende, vor allem Frauen in sozialer Armut, ebenso mehr als 4 Millionen w/m Rentner. Offiziell befinden sich 13 Millionen Menschen in Erwerbsarmut. In Westdeutschland erhält die große Mehrzahl aller Frauen und Mütter (ohne Beamtenstatus und ohne ‘’Gleichstellung'’ für Vorstandsposten), gegenwärtig und künftig, nur eine Altersrente aus der gesetzlichen GRV- Rentenversicherung, deutlich unterhalb des geringen Niveaus der gesetzlichen Grundsicherung, analog unterhalb der Sozialhilfe.
Berücksichtigen wir auch die aus dem sog. gesetzlichen Mindestlohn fehlenden sozialen Ansprüche für die Altersvorsorge und Altersrente, so kommen in den nächsten Jahren weitere Millionen Menschen, selbst bei mehr als 45 Vollzeitarbeitsjahren, aus ihrer vorausgegangenen Erwerbstätigkeit, in die Altersarmut.
Zudem: Der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen ist seit 1998 in Westdeutschland von 76 Prozent auf 57 Prozent gesunken. In Ostdeutschland ging der Anteil von 63 Prozent auf zuletzt 44 Prozent zurück.
Und wie schreiben Sie? »Nur unsere eigene Wirtschaftspolitik sollte bitte bloß nicht verändert werden.«
Und jetzt: »Steuersenkungen bringt Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ins Spiel, Olaf Scholz (SPD) möchte einen höheren Spitzensteuersatz. Beide wollen mehr Unterstützung für deutsche und europäische Konzerne.«
…
Von 1991 bis 2010 ist lt. Böckler Impuls, Ausgabe 03/2012, die Zahl der Staatsbediensteten um 1,6 Millionen gesunken; das sind über 30 Prozent. Das Ergebnis kennen wir: Deutschlands Infrastruktur verludert. Öffentliche Verwaltung und Politik müssen sich Sachverstand von „Privaten“ für Milliardenbeträge einkaufen: McKinsey, Roland Berger & Co. kommen vor Lachen nicht in den Schlaf.
Politik, Medien, auch Professoren kommen ebenfalls nicht in den Schlaf, beten das zweckdienliche Narrativ herunter: Mit schöner Regelmäßigkeit verkünden sie die frohe Botschaft von der wunderbaren Jobvermehrung und unterschlagen dabei ebenso regelmäßig, dass es dabei um die Verteilung eines zwar schwankenden, seit 1960 aber nahezu gleichgebliebenen Arbeitsvolumen von 57 bis 60 (2017) Milliarden Arbeitsstunden geht.
Während die Anzahl Erwerbstätiger von ehemals 22 Millionen um mehr als 100 Prozent auf im November 2018 45,22 Millionen Personen gesteigert wurde, lag der Anstieg des Arbeitsvolumens bei gerade mal bei ca. fünf Prozent.
Hierfür haben die Regierungen das nahezu unveränderte Arbeitsvolumen umverteilt, u. a., indem man dem Arbeitsmarkt auch die Personengruppe der 65- bis 67-Jährigen zuführte. Warum eigentlich, wenn doch nicht mehr Arbeit vorhanden ist?
Wie schreibt Michael Wallkötter von den Recklinghäuser Nachrichten am 10.01.2019 in seinem Kommentar: »Gleichzeitig stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze um 4536 (2,8 Prozent) auf knapp 167.000 an. 44 Prozent dieses Zuwachses gehen allerdings auf das Konto von Teilzeitstellen.«
Was also stattgefunden hat, ist eine gigantische Arbeitskraft- und damit auch Einkommensumverteilung, die nur über Prekarisierung breiter Bevölkerungsschichten zu erreichen war. Was das heißt, hat die Einzelhandelskette Real jüngst noch vorgeführt. – Diese Zusammenhänge aber sind den Medien kein einziges Wort wert.
Und, wie gesagt: Der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen ist seit 1998 in Westdeutschland von 76 Prozent auf 57 Prozent gesunken. In Ostdeutschland ging der Anteil von 63 Prozent auf zuletzt 44 Prozent zurück.
Und offensichtlich ist das politisch so gewollt und wird von den Medien promotet. Die Prekarisierung jedenfalls ist systemimmanent und wird in der Zwischenzeit ihren Erfindern selbst zum Verhängnis.
…
Angesichts dieser Problematik wäre es an der Zeit, die großen Profiteure der neoliberalen Politik, nämlich die Reichen und Superreichen, für die Vermeidung einer „Rezession“, wie Sie warnen, in Anspruch zu nehmen und sie zu einer Solidaritätsabgabe für das Gemeinwesten Staat zu verpflichten. Eine Solidaritätsabgabe, mit der Politik die vorhandenen massiven infrastrukturellen Defizite und unzulängliche Arbeits- und Renteneinkünfte auch und vor allem der inländischen Nachfrage wegen finanzieren könnte.
Außerdem gehören die sogenannten Steuerschlupflöcher konsequent gestopft.
Stellt sich nur die Frage, wer in der Politik das alles stemmen soll. Frau Merkel z. B. und mit ihr die ganze exportmanische BRD sind für Erpressung hoch anfällig. Wenn Herr Trump z. B. angesichts der in Teilen kriminellen deutschen Autohersteller nur noch VW, BMW, Audi Made in USA zulässt, sieht es hier düster aus.
Wieso sind eigentlich fast immer nur emeritierte Professoren kritische Professoren?
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Beineke
Admin - 19:00:43 @